Bachs Zauberwald
Meine erste aktive Begegnung mit J.S. Bach hatte ich, wie viele andere, durch das Weihnachtsoratorium. Als Teenager sang ich im Gesangsunterricht zuerst „Schliesse, mein Herze“ und etwas später „Quia respexit“ aus dem Magnificat. Zu dieser Zeit war singen ein Hobby. Gesungen wurde, was gefiel und wenn es mühsam wurde in der Höhe, gefiel es zwar immer noch, aber wurde auf der Prioritätenliste etwas nach hinten gerückt.
Was Bach mit mir als Solistin aber schon immer machte und mich von Anfang an faszinierte, war, dass er mich die Zeit vergessen liess. Da wird ein einzelner Satz wie durch einen Kristall in hundert verschiedene Farben getaucht. Es bleibt kaum Zeit zum Atmen, schon gilt es, wieder eine neue Facette zu finden, um Bachs neuem musikalischem Einfall gerecht zu werden. Dies macht Bachs Arien zu einer Herausforderung: Kann ich als Solistin dem Komponisten gerecht werden, der mir in seiner mathematischen Klarheit so viel Platz für Kreativität lässt? Doch wenn ich mich mit den einzelnen Phrasen beginne zu beschäftigen, wird mir jedes Mal wieder bewusst, wie Bach seine schützende Hand über mich hält und mir das musikalische Geleit anbietet, das ich brauche.
Auch als Chorsängerin war das Weihnachtsoratorium mein erster Kontakt mit Bach. Das erste Mal fühlte ich mich als Altistin den anderen Stimmregistern ebenbürtig. Er schafft es auf grossartige Weise, alle Stimmen immer wieder mit sanglichen Melodien oder virtuosen Koloraturen hervortreten zu lassen. Bach schrieb keine Musik, die man zusammen mit der Aufnahme und den Noten zuhause blattsingt. Viel mehr verlangen diverse Modulationen und künstlerische Verzierungen Geduld und musikalisches Verständnis. Aber nach einer Weile lichtet sich zuverlässig das Dickicht und ich überblicke den Zauberwald. Bach ist für mich der Beweis dafür, dass Logik und Mathematik ästhetisch ist, auch wenn es oft seine Zeit braucht, bis ich die Ästhetik in dieser Komplexität verstehe. Jedes Mal finde ich es faszinierend, wie gut Gehirn und Musik zusammenarbeiten. Grosse Stücke, welche anfangs „unmachbar“ scheinen, lichten plötzlich ihren Schleier und werden in dem Masse logisch, dass man sie nie mehr anders singen könnte und sie nie mehr vergisst.
Ich freue mich sehr mit dem Bach Ensemble unter der Leitung von Franz Schaffner mit einem Ensemble singen zu dürfen, welches grosse Erfahrung in der Interpretation von Bachs Werk hat. Ich bin sicher, dass sie mir in diesem Zauberwald noch einige unbekannte Orte zeigen werden, welche mich zu neuen Farbfacetten inspirieren und so noch näher zu Bachs Musik führen. Vielen Dank für diese Möglichkeit.
Susanne Andres